Selbstmitgefühl
In meinem Leben habe ich diesen Begriff ehrlich gesagt erst sehr selten gehört, was ich so schade finde, da er doch so unvergleichlich wichtig ist. Ich verbinde ihn in meinem Herzen immer mit einer Freundin von mir. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie die Person war, die ihn mir ins Ohr gesetzt hat, aber immer wenn ich merke, wie ich mit mir selbst hart umgehe oder an mir zweifle, frage ich mich: Wenn ich sie genau jetzt um Rat fragen würde – was würde sie sagen? Und der Kern der Antwort wäre immer Selbstmitgefühl.
Für mich hat ihre Energie immer etwas von Bernstein und Honig. Wie ein Glas warme Milch mit Honig, wenn der Hals kratzt. Und genau so fühlt sich auch Selbstmitgefühl für mich an. Wenn es um die Menschen geht, die du liebst, weißt du oft direkt, wie man sanft ist. Weil du diesen Menschen kennst, diesen Menschen liebst, weißt du, er verdient es, Sanftheit zu erfahren und Verständnis zu bekommen. Wir alle gehen durch Zeiten, die schwer sind, deswegen sollte man sie seinen Liebsten nicht noch schwerer machen. Aber warum machen wir es uns selbst dann immer so schwer? Wieso haben wir Mitgefühl für andere, aber nicht für uns selbst? Ich ertappe mich selbst so oft, wie ich zu anderen sage: Sorge gut für dich, sei nicht so hart zu dir, du hast dein Bestes gegeben. Aber wieso fällt es so schwer, sich selbst das zu sagen?
Vielleicht liegt es daran, wie wir aufgewachsen sind, wie wir geprägt wurden – immer mit dem Gefühl, da muss doch mehr gehen. Habe ich wirklich alles gegeben? Immer selbstkritisch zu sein. Und versteht mich nicht falsch, es ist gut, sich selbst zu reflektieren und zu schauen, wo man sich verändern möchte und wo nicht. Aber das Konzept, dass man immer besser werden muss, bekommt, je älter ich werde, einen immer komischeren Beigeschmack für mich. Denn der kapitalistische Gedanke, immer mehr zu wollen, ist doch irgendwie zum Scheitern verurteilt, solange es nicht um Wissen, Liebe oder Glück geht, oder? Wieso ist der Gedanke so tief verankert, dass man immer mehr machen oder schaffen muss, dass man immer perfekt sein soll, dass man keine Fehler machen darf? Dieser Anspruch klingt mittlerweile für mich irgendwie krankhaft. Jeder Mensch macht Fehler, und jeder Mensch geht durch Wellen, durch Phasen. Und das ist normal und menschlich. Und das ist auch gut so.
Selbst die Natur geht durch Phasen des Wachstums (Frühling), des Strahlens (Sommer), des Verlusts (Herbst) und des Ruhens (Winter), bevor das Wachstum erneut beginnt. Durch Phasen der Erneuerung, des Verlusts und des Stillstands lernen wir. Und egal wie viel du überdenkst, du wirst nie alles vorher wissen.
Ich glaube auch, dass Menschen, die dich wirklich sehen und spüren, merken, dass du, wenn du einen Fehler machst, diesen nicht böswillig begehst, sondern weil du es einfach nicht besser wusstest – oder weil es dein Weg ist, Dinge selbst zu erfahren und zu lernen. Jeder lernt anders. Manchen reicht es, zu sehen, wie andere Dinge erleben, und manche müssen Konsequenzen selbst spüren. Wir sind alle individuell und anders, und das ist unsere Stärke. Je mehr Selbstmitgefühl wir mit uns selbst haben und je mehr Mitgefühl wir in unserem Umfeld erleben, desto leichter fällt es uns auch, Mitgefühl für andere zu empfinden. Und ist das nicht wundervoll? Zu sehen, wie das eigene Nervensystem langsam ruhiger wird, weil wir anfangen darauf zu vertrauen, dass wir unser Bestes geben, auch wenn wir nicht in unserer Bestform sind. Und dass wir richtig sind, so wie wir sind. Das wir vielleicht gerade einfach in einer anderen Phase sind und nicht immer Strahlen müssen. Und auch nicht (ver-)urteilen müssen wie lange eine Phase geht.
Auch ich bin noch nicht an einem Punkt, an dem ich ein Meister des Selbstmitgefühls bin. Seit langer Zeit spielen weder mein Körper noch mein Geist wirklich so mit, wie ich es mir wünschen würde. Ich brauche viel mehr Pausen als früher und reagiere sehr viel sensibler auf Reize als noch vor ein paar Jahren. Immer wieder ertappe ich mich dabei, enttäuscht zu sein und zu denken, ich enttäusche andere und mich selbst, weil ich nicht so widerstandsfähig bin, wie ich es mir wünschen würde. Weil ich anders bin als andere. Etwas, das viele Hochsensible erleben – das Gefühl, irgendwie anders zu sein und nicht dem zu entsprechen, was erwartet wird. Doch dann versuche ich, mich daran zu erinnern, dass ich jeden Tag mein Bestes gebe. Ich habe aktuell weniger zu geben, weil mein Körper und mein Geist Ruhe und Heilung brauchen. Und das ist okay. Denn mein Wert ist inhärent. Er ist nicht gekoppelt an Leistung oder daran, wie viel ich geben kann. Er ist daran gekoppelt, dass ich bin.
Oft wird der Wert vergessen, den Hochsensible und Empathen zur Gesellschaft beitragen, weil er leise ist, fast beiläufig. Ich denke, jeder von euch hat schon einmal erlebt, wie es sich anfühlt, einem Menschen zu begegnen, der dich versteht, ohne viele Worte. Der dich nicht verurteilt, sondern dich einfach sein lässt. Der deinen Wert sieht, wenn du einfach neben ihm sitzt. Der dich lesen, spüren kann, vielleicht sogar ohne dass du etwas sagst. Der deinen Unmut wahrnimmt, einfach nur durch Körpersprache. Das sind die Menschen, die sich wie Sicherheit in einer unsteten Welt anfühlen. Und oft sind es genau diese Menschen, die viel Rückzug brauchen, die sich erholen müssen, weil sie so viel wahrnehmen, dass sie sich abgrenzen und ihre Energie wieder aufladen müssen, damit sie genau diese Magie nicht verlieren.
Und wo wären wir in einer Welt, in der es keine Heiler gäbe, keine Menschen, die dich genau dann auffangen, wenn du an deinem tiefsten Punkt bist. Die dir Hoffnung geben, Raum geben, zu heilen und dich selbst wiederzufinden. Die dir die Stärke geben, in dich selbst zu vertrauen und zu erkennen, dass du in deiner Authentizität am wertvollsten bist.
In einer Welt, die oft laut und schnell ist, vergessen wir, wie viel Magie in der Ruhe und dem Sein liegt. Im Spüren und im Mitgefühl – für dich selbst und für andere. In einer Welt, die fordert, dass wir hart sein sollen, ist es ein radikaler Akt, sanft zu bleiben. Denn wenn du sanft bist, kannst du nicht wählen, hart zu sein. Das wäre gegen deine Natur. Und meine rebelliert seit geraumer Zeit genau dagegen. Gegen den Anspruch anderer, ich müsse anders sein. Aber vielleicht ist es auch meine Projektion, dass ich mir selbst nicht ganz eingestehe, so sanft und sensibel zu sein, wie ich bin. Dass ich noch immer versuche, Erfolg auf eine Weise zu finden, die mir nicht entspricht, meiner Energie nicht entspricht. Und dann ist es doch verständlich, dass man erschöpft, wenn man gegen seine eigene Natur lebt.
Vielleicht liegt genau hier die Lektion: Selbstmitgefühl zu haben. Wenn du aktuell in einem Umfeld oder auf einem Weg gefangen bist, der dich nicht nährt, bist nicht du das Problem. Es ist einfach an der Zeit, sanft mit dir selbst zu sein und anzuerkennen, dass dein Anderssein vielleicht deine größte Stärke ist – und dass dieser andere Weg Zeit braucht, um entdeckt zu werden.