Egoismus

„Du bist schwierig.“
Dieser Satz wurde mir vor einiger Zeit gesagt, als Reaktion auf mein wiederholtes Setzen von Grenzen, die über Monate immer wieder überschritten wurden, als würde ich gegen eine Wand reden. Und er hat mich genau dort getroffen, wo eine recovering people pleaser jahrelang dachte, nichts könne mir mehr wehtun.

Jahrelang habe ich versucht, es allen recht zu machen. Auf meine Kosten. Weil ich dachte: Ich halte das schon aus. Denn wenn alle zufrieden sind, muss ich nur mit meinem Schmerz und meiner Erschöpfung umgehen, und das schien mir kalkulierbarer, als mit der schlechten Stimmung anderer umgehen zu müssen, wenn ich an mich denke.
Oh boy, was I wrong.

Mein Bedürfnis war immer, alles andere als schwierig zu sein, im Gegenteil, die zu sein, auf die man sich verlassen kann, bei der man sich wohlfühlt und wo alles easy-going ist.
Geendet hat das in einer Art Burnout und einer jahrelangen Depression, die noch immer in meinem Leben präsent ist. Als hochsensibler Mensch bin ich seit meiner Kindheit sehr empfänglich für mein Umfeld. Ich erkenne Stimmungen, spüre mehr als viele andere und bin schneller irritiert von Geräuschen, Gerüchen und jeglichen Umweltreizen. Durch die jahrelange Unterdrückung meiner eigenen Bedürfnisse und die Akzeptanz von Doppelstandards in meinem Umfeld musste ich, als mein Körper und mein Geist irgendwann zusammengebrochen sind, unweigerlich lernen, “egoistisch” zu sein. Etwas, das sich immer wie eine Bedrohung angefühlt hat. Denn wenn ich “egoistisch” bin, ziehe ich Konflikte an, und das hat sich wie eine riesige Bedrohung angefühlt. Seit gut acht Jahren lerne ich nun, zwischen meinen eigenen Bedürfnissen und denen meines Umfelds zu navigieren. Und es fällt mir nach wie vor manchmal schwer, weil ich mich schnell schuldig fühle, wenn ich an mich denke.

Doch die wahre Frage ist: Bist du egoistisch, wenn du an dich und dein Wohlbefinden denkst? Oder ist es die Person, die von dir verlangt, deine Grenzen und Bedürfnisse zu überschreiten – für ihren Vorteil? Mittlerweile ist die Antwort für mich klar. Wenn jemand von mir verlangt, mich in eine Lage zu bringen, in der ich mich nicht wohlfühle, dann ist diese Person das Problem, nicht ich. Denn wenn jemand zu seinem Vorteil mein Wohlbefinden aufs Spiel setzt, ist es Zeit, eine Grenze zu setzen und sie auch beizubehalten.

Und da beginnt oft das Gaslighting:
„Du bist schwierig.“ (Weil ich gesunde Grenzen setze und du in meiner Gegenwart nicht machen kannst, was du willst, da es auch Auswirkungen auf mich hat.)
„Du stellst dich an.“ (Ich bin ein Mensch mit Bedürfnissen, und wenn mein Gefühl mir sagt, dass hier etwas falsch ist, dann ist es das auch.)
„Du bist egoistisch.“ (Weil ich an mein Wohlbefinden denke und nicht an deinen Vorteil.)
„Du nimmst keine Rücksicht auf mich.“ (So wie du auch nicht auf mich und meine Bedürfnisse Rücksicht nimmst.)

Genau dort liegt oft die Achillesferse von Empathen und Hochsensiblen. Wir wissen, wie sehr es schmerzt, nicht gesehen oder berücksichtigt zu werden, und wir wollen niemals so werden wie diejenigen, die uns das ein Leben lang „angetan“ haben. Wir versuchen sogar, vorherzusehen, was andere brauchen, ohne dass sie es aussprechen müssen. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass wir lernen, gesunde Grenzen zu setzen und zu filtern, wessen Meinung wir wirklich an uns heranlassen.

Wir empfinden Rücksichtnahme und Geben als sehr erfüllend und ziehen so oft Menschen in unser Leben, die das irgendwann als selbstverständlich sehen. Interessanterweise sind die Menschen, die ich aktuell in meinem Leben habe, das Gegenteil: Sie geben, nehmen Rücksicht und empfinden nichts von dem, was ich für sie tue, als selbstverständlich. Es ist heilend zu erkennen, wie selbstverständlich ein so sanftes Miteinander für alle Beteiligten sein kann – selbstverständlich im Geben, aber nicht im Nehmen. Gewissermaßen ist das ein Spiegel dessen, was viele von uns erlebt haben: Menschen zu treffen, die sanft und liebevoll sind, die auf sich selbst, aber auch auf ihr Gegenüber achten und deren oberste Priorität ist, dass es allen gut geht. Immer wieder erlebe ich, wie neu es für viele ist, wenn man im Alltag „Fill your own cup first“ nicht nur sagt, sondern auch lebt.

Ich weiß, ich bin nicht schwierig.

Ich bin hochsensibel und sehr aufmerksam. Ich kann gut auf andere Menschen Rücksicht nehmen und habe kein Problem, zurückzustecken, wenn ich weiß, dass es dem Wohl eines anderen Menschen dient. Ich überlege oft, welche Auswirkungen meine Rücksichtnahme auf mich und auf die Person hat, der ich sie entgegenbringe. Wenn klar erkennbar ist, dass dieser kleine Schritt für mich einen großen positiven Einfluss auf mein Gegenüber hat, gibt es für mich keine Frage.

Was ich jedoch mittlerweile sehr genau betrachte, ist, ob es eine Einbahnstraße ist oder ein Geben und Nehmen. Und das ist der entscheidende Punkt. Ich gelte für diejenigen als schwierig, die wiederholt meine Bedürfnisse ignorieren, egal, wie oft ich sie ausgesprochen habe. Und das allein ist schon ein Riesenschritt für mich: gelernt zu haben, sie überhaupt auszusprechen. Umso schmerzhafter ist es, ignoriert zu werden. Die Frage ist also: Wenn ich anspreche, was mich stört, und ich werde ignoriert – welche Konsequenz wird erwartet? Dass ich dieses Verhalten einfach akzeptiere? Absurd. Ich beginne, mich an erste Stelle zu stellen, genau so, wie mein Gegenüber es ja auch tut. Und bitte: Fall nicht auf alles herein, was ein Mensch sagt. Taten sprechen Wahrheit, nicht Worte. Wenn sich jemand dir gegenüber wiederholt egoistisch verhält und verlangt, dass du dein Wohlbefinden hinter seines stellst, dann ist es Zeit, dass du dich selbst an erste Stelle setzt.

Ich weiß, das wird am Anfang schwierig sein. Du wirst dich fühlen, als würdest du dich selbst verlieren, weil deine Identität immer die des liebevollen, rücksichtsvollen Menschen war – der Safe Space für andere. Und wenn du auf einmal nicht mehr dieser Mensch für alle bist, sondern nur noch für die, die auch für dich da sind, fühlt es sich an, als wärst du nicht integer oder nicht mehr du selbst. Aber das ist nicht so. Nicht andere entscheiden, wer du bist, sondern du selbst. Und es ist auch das Framing, das Egoismus in unserer Gesellschaft hat, für das besonders liebevolle, sensible Menschen sehr empfänglich sind.

Es gibt da draußen viele, die sehen, wie liebevoll und wertvoll du bist. Und deine Energie dort zu investieren, wo sie gesehen und wertgeschätzt wird, vervielfacht deinen Impact, anstatt dich nur deiner Energie zu berauben. Gesunde Grenzen und gesunder Egoismus sind der Nährboden, auf dem dein Licht langfristig gedeihen und leuchten kann.

Denn die Welt braucht dein Licht.

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